Was ist der Himmel wirklich?
von Weihbischof Andreas Laun
Als ich noch in der Volksschule Religion
unterrichtete, fragte mich einmal ein Mädchen: Wenn ich eine ganz, ganz lange
Leiter habe, kann ich dann in den Himmel hinaufsteigen? Wir Erwachsene lächeln
über solche Kinder-Träume, sicher, aber die Frage nach dem Himmel ist so
aufregend, dass wir es ja nicht beim Lächeln über Kinder bewenden lassen
sollten! "Wir kommen alle, alle in den Himmel...", singen oft Leute mit einem
weinseligen Ausdruck im Gesicht. Aber dann, am nächsten Tag, wären sie peinlich
verlegen, wenn man sie fragen würde: Wollen Sie eigentlich in den Himmel kommen?
Und wenn ja, was tun Sie, um dorthin zu kommen? Sind Sie wirklich sicher, dass
wir alle - und Sie auch - in den Himmel kommen?
Wollen Sie
überhaupt in den Himmel kommen? Ach, was für eine Frage! Eigentlich müsste jeder
Mensch alles aus der Hand fallen lassen, elektrisiert von dem Gedanken daran,
tausendmal mehr als bei einem riesigen Lottogewinn! Was ist schon Geld, was ein
Lotto-Sechser! Der ist vergänglich, und gewinnen können immer nur wenige. Aber
der Himmel ist ewig und allen, wirklich allen erreichbar, im und durch das
normale Leben, ohne lange Leiter!
Ich erinnere
mich an das Bild des vom Tod schon gezeichneten Onassis. Aufgeregte Reporter und
Fotografen umschwärmten den todkranken und reichsten Mann der Welt, aber sein
Blick ging durch die Meute durch, war leer und ohne Hoffnung. Sein Geld hatte
sich von ihm sozusagen schon verabschiedet, ihn vielleicht verhöhnt wie "das
Geld" im "Jedermann". Nichts, gar nichts nützt es ihm - und keinem Menschen der
Welt, wie reich er sein mag. Das ist kein Wunschdenken von irgendeinem
missgünstigen Pfarrer, der einem die Lebensfreude nicht gönnt, sondern es ist
einfach so. Denn in dieser Stunde, die absolut sicher kommen wird, zählt
wirklich nur noch die Frage: "Komme ich, vorausgesetzt es gibt ihn, in den
Himmel?"
1. Was der Himmel nicht ist
In manchen
Religionen hat man sich den Himmel wie eine Fortsetzung des irdischen Lebens
vorgestellt, nur alles "besser" und ohne irgendwelche Katerwirkungen. Das heißt
dann: Nicht eine Frau, sondern viele Frauen, nicht eine hässliche oder
herrschsüchtige Frau, sondern nur schöne, sanfte, liebe Frauen. Dazu köstliche
Speisen ohne Magendrücken und ohne Kalorien-Sorgen. Das dazugehörige Haus ist
ein Palast, natürlich ohne Schmutzwäsche. Kurz gefasst: Immer Urlaub und das
ohne die geringste Beanstandung.
Gegen solche
"Himmelsträume" steht die Geschichte von dem Mann, der im Jenseits erwacht. Er
liegt unter Palmen, eine angenehme Brise kommt vom Meer, das sich zu seinen
Füßen glitzernd ausbreitet, und wenn er ein Bedürfnis hat, eilen Diener herbei
und erfüllen ihm jeden Wunsch. Aber nach einiger Zeit ruft er einen der
dienstbaren Geister herbei und beklagt sich: Er möchte etwas Sinnvolles tun.
Aber der Diener schüttelt den Kopf: Das ist, sagt er, das einzige, was wir nicht
haben. Ärgerlich antwortet der Mann: Wenn ihr das nicht habt, möchte ich lieber
in der Hölle sein! Zu seinem Entsetzen bekommt er die Antwort: Ja, was glauben
Sie, wo Sie sind?
Eine weise
Geschichte! Denn tatsächlich gibt es kein Vergnügen dieser Welt, das nicht zum
unvorstellbaren Ekel würde, wenn wir es immer und ohne Ende "genießen" müssten.
Unsere Seele, das kann niemand ändern, ist einmal so geschaffen, dass Vergnügen,
Spaß, Unterhaltung sie nie und nimmer sättigen.
Darum braucht es
eigentlich auch gar nicht allzu viele Worte der Prediger gegen die Vergnügen und
Lustbarkeiten dieser Welt: Sie vergehen ohnehin, und der schale Geschmack bleibt
niemand erspart. Die Seele ist für die Liebe geschaffen. Wer daher immer nur die
ich-bezogene Befriedigung sucht, wird früher oder später zu leiden beginnen -
bis die Entzugserscheinungen unerträglich werden!
Gegen diesen
Befund kann man auch nicht scheinbar sehr "sinnliche" Gleichnisse Jesu anführen.
Denn wenn dieser vom himmlischen Hochzeitsmahl redet, dann ist das eben nicht
die Freikarte für ein überirdisches Feinschmeckerlokal, sondern ein Fest, in
dessen Mitte die Braut und der Bräutigam stehen - und damit die Liebe.
2. Der Himmel ist das Leben mit Gott
"Das vollkommene
Leben mit der allerheiligsten Dreifaltigkeit, diese Lebens- und
Liebesgemeinschaft mit ihr, mit der Jungfrau Maria, den Engeln und allen Seligen
wird 'der Himmel' genannt". So lesen wir im Katechismus (1024).
Wir brauchen uns
den Himmel also nicht ausdenken. Unsinnig wäre auch die Frage: Was ist "für"
mich, "für" dich oder "für" die Dame dort drüben der Himmel? Der Himmel richtet
sich, Gott sei Dank, so wenig nach unseren Wünschen oder Träumen wie die Erde,
die sich mit und ohne uns dreht nach ihrem Gesetz, nicht nach unseren
Vorstellungen. Wie ist der Himmel wirklich? Wir brauchen nur hinhören auf das,
was die Offenbarung sagt, es betrachten und, wie Maria es so oft getan hat, in
unserem Herzen erwägen.
Also was ist der
Himmel? Wir haben es gerade gehört: Vor allem das Leben mit Gott. Dabei werden
wir ihn - endlich! - "von Angesicht zu Angesicht" schauen, nicht mehr wie in
einem beschädigten Spiegel, nicht mehr verhüllt in der Gestalt des Brotes oder
auf dem Umweg über den Geringsten unserer Brüder und Schwestern, "in" denen wir
kraft des Glaubens trotz aller Entstellungen Gottes Ebenbild "erkennen". Wir
müssen auch nicht mehr Seine Spuren in der Schöpfung befragen, um wenigstens
irgendetwas von Ihm zu erkennen. Unsere Lage ist dann auch nicht mehr die der
Knechte, die sich zu später Nachtstunde immer noch fröstelnd und gähnend um das
Feuer scharen müssen, weil der Herr noch immer nicht kommt und weit und breit
kein Fackelschein sein Kommen ankündigen würde. Nein, wir werden ihn, den
unsagbar herrlichen, geheimnisvollen Gott sehen wie ER ist.
Sehen? Ist das
die Seligkeit? Ja, weil wir sehen, wie Gott uns liebt, unerwarteter weise wie ein
Bräutigam seine Braut. Wir sind beim himmlischen Hochzeitsmahl ja nicht nur
Gäste, die sich zwar freuen, dabei zu sein und dabei Braut oder Bräutigam ein
wenig um ihr Glück beneiden. Nein, wir selbst stehen im Mittelpunkt des Festes,
weil Gott uns liebt, jeden von uns, persönlich wie ein Mann seine Frau. Diese
Liebe kennt keine "weiße Flecken" in der Beziehung, wie es in so vielen
irdischen Ehen der Fall ist: die weißen Flecken auf der gemeinsamen Landkarte
des Lebens, die wehtun, weil wir uns in dem einen oder anderen Punkt einsam und
unverstanden fühlen.
Wenn wir in den
Himmel kommen - auch das sagt uns der Katechismus mit den Worten des Papstes
Benedikt XII. eindringlich (1023) - werden wir die unerlässliche Reinigung (also
das Fegfeuer) schon hinter uns haben, und kein Schatten fällt mehr auf unsere
Beziehung zu dem lebendigen Gott.
Natürlich,
Paulus mahnt uns: Kein Auge hat geschaut, kein Ohr hat gehört, und niemand
konnte sich jemals "das Große" ausdenken, "das Gott denen bereitet hat, die ihn
lieben." Aber sicher ist: Die Freude an einem Hochzeitstag ist wie ein
Wegweiser, der uns die Richtung anzeigt, in die unsere Gedanken gehen dürfen bei
der Frage: Was ist der Himmel? Sicher ist: Der Himmel ist die Erfüllung der
tiefsten Sehnsucht des Menschen, er ist "der Zustand höchsten, endgültigen
Glücks", wie der Katechismus (1024) uns bestätigt.
3. Der Himmel ist Gemeinschaft der Heiligen
Karl Barth, ein
bedeutender evangelischer Theologe - der in seiner Kirche übrigens auch die
Gegnerschaft zu Hitler entscheidend mitgetragen hat - soll einmal gefragt worden
sein, nach wem er sich im Himmel erkundigen werde. Barth habe nachgedacht und
dann, bei aller Ernsthaftigkeit wohl auch schmunzelnd, geantwortet: "Wenn ein
Protestant überhaupt in den Himmel kommt, werde ich nach Augustinus und Luther
fragen, aber zuerst nach Mozart!"
Ich weiß nicht,
ob die Geschichte wahr oder nur gut erfunden ist. Sicher aber ist: Der Himmel
besteht zwar vor allem in der Gemeinschaft mit Gott, aber doch auch in der
Gemeinschaft aller Heiligen, und das heißt: Gemeinschaft mit allen, die bei Gott
sind. Selbstverständlich werden wir als individuelle Personen, als Frauen und
Männer, im Himmel sein. Im Himmel werden wir nicht in einen anonymen
"Einheits-Menschen" verwandelt, sondern im Gegenteil, wir finden unsere wahre
Identität, und Gott ruft jeden mit einem einzigartigen, nur ihm gehörenden
"neuen Namen, den nur den kennt, der ihn empfängt" (Off 2,17; Katechismus
1025). Darum werden wir natürlich auch die Menschen, mit denen wir wirklich in
Liebe verbunden waren, wieder erkennen. Neulich sagte mir ein Mann: Ich hoffe
sehr, im Himmel mit meiner Frau wieder beisammen zu sein. Ja, natürlich, auch
wenn dieses "Beisammensein" anders sein wird als auf der Erde. Denn Jesus hat
uns gesagt: Die Ehe wird es nicht mehr geben, und wir werden leben wie die Engel
im Himmel. Das mag manchem nicht sehr attraktiv vorkommen, weil er sich vom
Leben der Engel keine oder nur eine langweilige Vorstellung macht. Aber er möge
sich getrost sagen lassen: Gott wird seine kühnsten Träume weit in den Schatten
stellen!
Gemeinschaft der
Heiligen! Wir werden Maria sehen und bei ihr sein dürfen. Man denke an die
strahlenden, verklärten Gesichter mancher neuzeitlicher Heiliger und Seher, die
man fotografieren konnte: Was für eine Freude spiegeln sich in ihrem Antlitz,
wenn sie die hl. Jungfrau sehen durften!
Auch unseren
Schutzengel werden wir sehen und erkennen, mit welcher Liebe und Geduld er unser
Leben begleitet hat. Glücklich werden wir zu ihm sagen: Du warst es also!
Endlich werden
wir unsere heiligen Freunde (Namenspatrone, besonders verehrte Heilige)
persönlich kennen lernen - und, wie sich K. Barth das wohl richtig vorstellte,
viele andere Menschen, die wir verehrten und liebten - zum Beispiel Mozart oder
Platon oder Shakespeare..!
Noch etwas wird
uns dabei glücklich machen: Bei denen, die geistig behindert waren oder, im
Alter, geistig abgebaut haben, so dass sie gar nicht mehr "sie selbst" waren,
wird uns der eigentliche, wahre Mensch begegnen oder wieder begegnen, ohne jede
Trübung, ohne Missverständnisse, ohne irgendwelche Trübung. Auch da wiederum:
Was für ein Glück wird das sein!
4. Unsere Heimat ist im Himmel
Der Mensch ist
für die Hingabe der Liebe und damit auch für das Glück der Liebe geschaffen.
Darum macht ihn nur die Liebe glücklich, und diese Wahrheit spiegelt sich sogar
noch in dem sehnsüchtigen und oft so verzweifelten Kreisen des Menschen um das
"erste Thema" seines Lebens: das Zusammenleben mit einem geliebten Menschen.
Darum sagt
Paulus: "Unsere Heimat ist im Himmel", und darum redet die Offenbarung, ganz im
Sinn der jüdischen Tradition, vom "himmlischen Jerusalem". Ja, so ist es: Gerade
wenn wir ein Land, eine Stadt, eine Gegend dieser Welt als "unsere Heimat"
wirklich lieben und wenn es uns an einer tiefen Stelle unseres Herzens wehtut,
sie zu verlieren, dann sollten wir uns erinnern lassen: Deine Heimat ist im
Himmel! Nimm Dein irdisches "Jerusalem" - oder wie immer die Stadt deiner
Sehnsüchte heißen mag - zum Gleichnis und richte dein Denken und Sehnen auf das
himmlische Jerusalem, das, wie es in der Offenbarung heißt, von Gott herabkommt,
geschmückt wie eine Braut, die für ihren Mann bereit ist. Dieses Jerusalem ist
das Zelt Gottes unter uns. Gott wird jede Träne abwischen, und es bedarf keiner
Lampen mehr und keiner Sonne, denn Er selbst wird unser Licht sein.
Was für ein
Bild! Wer jemals vom Ölberg aus auf Jerusalem blickte, wird verstehen, warum
Jesus über Jerusalem in Tränen ausbrach und warum die hl. Schrift diese Stadt
zum Gleichnis für uns alle genommen hat: das himmlische Jerusalem, unsere Heimat
im Himmel.
5. "Wo" ist der Himmel?
Die Frage, wo
der Himmel sei, ist ungefähr so eigenartig, wie wenn jemand fragen wollte: Wo
ist deine Ehe glücklich? Für das Glück der Liebe gibt es keine geographische
Bestimmung. Liebende sind überall glücklich.
Dennoch ist die
Frage nicht ganz falsch. Denn in der hl. Schrift ist auch von einer Erlösung der
Schöpfung und von einer neuen Erde die Rede. Materie braucht einen "Ort". Ja,
aber mehr können wir auch nicht sagen. Es gilt, was Paulus auf die Frage des
"Wie" der Auferstehung und die Frage nach dem "Was" des auferstandenen Leibes
sagt: Aus dem Samen erkennst du noch nicht, wie die Pflanze ausschauen wird! Der
jetzige Leib ist verweslich und armselig, aber der verklärte Leib wird stark und
herrlich sein (1 Kor 15,35) - aber das Wie ist uns noch verborgen, unvorstellbar
wie einem Fisch das Leben am Land.
Freilich, wer
wüsste nicht gerne mehr über die kommende Herrlichkeit. Aber so ist es mit der
Offenbarung: Sie zeigt uns den Weg, sie gibt jede Information, damit wir ihn
finden und nicht verlieren, sie sagt uns genug über das Ziel, um uns zu
motivieren, und sie gibt uns die Stärkung mit auf den Weg - aber sie sättigt
nicht unsere Sehnsucht, mehr über die Ewigkeit zu erfahren, und erst recht
stillt sie nicht unsere Neugierde.
6. Wann fängt der Himmel an?
Überraschenderweise lautet die Antwort: Mit der Taufe, weil sie das Leben in der
Gnade und der Gemeinschaft mit Gott begründet. Natürlich ist da das
Gegenargument schnell bei der Hand: Ist die Erde nicht doch ein Tal der Tränen",
auf die eine oder andere Weise für jeden, auch den scheinbar ganz Glücklichen?
Leben wir nicht, wie sogar Paulus feststellt, in der "Fremde"?
Ja, das alles
ist richtig, und niemand soll uns einreden, dass wir schon "im Himmel sind"! Und
doch, wenn die Liebe schon begonnen hat, hat auch der Himmel angefangen zu sein,
vergleichbar der Geschichte einer Liebe, in der die Liebenden erst nach
schmerzlichen Zeiten des Getrennt seins zusammenfinden - aber ihre Liebe hat
schon lange vor der Hochzeit angefangen.
7. Gibt es Unterschiede im Himmel?
Ja, weil die
Gnadengaben Gottes verschieden sind. Bezüglich unseres irdischen Lebens ist das
geradezu mit Händen zu greifen: die Gaben der Menschen sind verschieden und
ebenso verschieden sind die Charismen in der Kirche und für die Kirche.
Das gilt auch
für die Ewigkeit. Denn jedem Menschen wird Christus seinen "Kranz" und seinen
Lohn zuteilen - ein "Lohn" freilich, der zugleich Gnade ist.
Das heißt zum
Beispiel: Maria wird in alle Ewigkeit "voll der Gnade" in einem Maße sein, das
das unsere weit übertrifft.
Ist das nicht
doch ungerecht? Nein! Warum soll es ungerecht sein, wenn Gott einem anderen noch
mehr schenkt als mir? Auf Geschenke gibt es keinen Rechtsanspruch. Nach einem
Bild der hl. Theresia von Lisieux ist es wie mit ungleich großen Gefäßen: In den
kleineren ist weniger drinnen als in den großen, aber alle sind "voll". Im
Himmel wird es keinen Neid angesichts des Mehr eines anderen geben, sondern nur
noch die Freude der Liebe mit und für den noch reicher Beschenkten.
8. Hilfe der Heiligen
Die Heiligen im
Himmel bilden die "triumphierende Kirche". Es sind diejenigen, die schon bei
Gott sind. Sie sind uns vorausgegangen, sie winken uns gleichsam zu und
ermutigen uns "von drüben". Dabei sitzen sie, bildhaft geredet, nicht auf einer
himmlischen Zuschauer-Tribüne und beobachten nur, wie wir dem Ziel
entgegenlaufen und ob wir es schaffen. Nein, sie nehmen an unserem Leben teil.
Denn sie erfüllen weiterhin den Willen Gottes "auch in Bezug auf die anderen
Menschen und die gesamte Schöpfung", sagt der Katechismus (KKK 1029). Es wäre
auch eigenartig, wenn sie jetzt, wo sie in der Vollendung sind, weniger für uns
tun könnten als in der Zeit ihrer irdischen Begrenztheit und Hinfälligkeit. Und
doch: Hätten wir uns getraut, eine solch lebendige Gegenwart der Heiligen in
unserem Leben ohne die Versicherung der Kirche zu glauben? Wäre es aber nicht
so, wäre unsere Bitte, an Heilige gerichtet, ohne Fundament in der Wirklichkeit.
9. Wer will in den Himmel?
Manche Menschen
reagieren mit - gespielter? - Gleichgültigkeit, wenn vom Himmel die Rede ist,
oder sie argwöhnen, man wolle mit dem Himmel "vertrösten" und damit von den
irdischen Problemen billig ablenken.
Aber ist es
nicht doch so: Wenn jemand sagt, das interessiere ihn nicht, weiß er entweder
nicht, wovon die Rede ist, oder seine Werke sind böse, und darum erregt der
Gedanke an die Gemeinschaft mit Gott in ihm Angst, Abwehr, Widerwille.
Erstrebenswert ist der Himmel ja nur für den Liebenden! Menschen, die Gott
hassen, und Teufel, also abgefallene Engel, können den Himmel nicht wollen. Die
Nähe Gottes wäre für sie noch schlimmer als die Distanz!
Aber ein
redlicher Atheist müsste zugeben: Es wäre schön, wenn die Christen recht hätten
und nicht er mit seiner grauenhaften, trostlosen Sicht des menschlichen Lebens.
10. Wer kommt in den Himmel?
Die letzte Frage
ist dann doch wieder die wichtigste: Wer kommt in den Himmel? Oder konkreter:
Komme ich in den Himmel? Kommt der oder jener Mensch, den ich so sehr liebe, in
den Himmel?
Im Himmel, sagt
eine halbernste Betrachtung, werden wir uns im Himmel über drei Menschengruppen
wundern: Über die, die im Himmel sind, obwohl wir sie nicht erwartet hätten;
über die, mit denen wir sicher gerechnet haben, die aber (noch) fehlen; vor
allem aber werden wir uns wundern darüber, dass wir selbst im Himmel sind.
Im Katechismus
heißt es jedenfalls zu der gestellten Frage, wer denn in den Himmel kommt,
lapidar: "Die in der Gnade und Freundschaft Gottes sterben und völlig geläutert
sind, leben für immer mit Christus" (1023). Und: "jene, die an ihn (Christus)
geglaubt haben und seinem Willen treu geblieben sind", nehmen an seiner
Herrlichkeit teil (1026).
Das sind nur
andere Worte für das "Halten der Gebote", auf das Jesus den so genannten
"reichen Jüngling" verweist. Sicherheit für den Himmel bietet auch die Antwort
Mariens an den Engel: Siehe ich bin die Magd des Herrn - ein Lebensprogramm, das
zur Heiligkeit führt.
Aber das ist es
ja, werden jetzt viele einwenden: Mein Leben hat doch dem Willen Gottes so oft
nicht entsprochen! Ja, das wird schon so sein, aber dann sollten wir uns von
Johannes Paul II. an den ersten, von Jesus selbst heilig gesprochenen Mann
erinnern lassen, nämlich den Verbrecher, der mit Ihm gekreuzigt war und dem
Jesus zugerufen hat: Amen ich sage dir, heute noch wirst du bei mir im Himmel
sein.
Übrigens, Gott
liebt auch die ungeborenen und ungetauften Embryonen, ebenso die geistig
Behinderten, die Ihn nicht erkennen können, und überhaupt will Er das Heil aller
Menschen, und zwar wirklich und für jeden, natürlich auch für die, die von Jesus
nie gehört haben. Wir wissen nicht, wie die Gnade der Erlösung zu all diesen
Menschen gelangt, aber sicher ist: Es gibt kein Heil außer durch das Kreuz Jesu
Christi. Der Himmel ist Heimat für alle, die nur irgendwie wollen, auf Gott
allein bekannte Weise können auch Menschen in den Himmel kommen, die scheinbar
nichts von Ihm wissen. "Die Seelen der abgetriebenen Kinder beten für ihre
Eltern", soll einmal Marte Robin, eine große Mystikerin unseres Jahrhunderts
gesagt haben - das liegt ganz auf dieser Linie der Hoffnung und des Glaubens an
die Unendlichkeit Seiner Barmherzigkeit.
Als einmal, vor
Jahren, irgendjemand in der Gegenwart meiner Mutter über meine mögliche Karriere
als Theologie-Professor oder vielleicht sogar als Bischof sprach - ich erinnere
mich nicht mehr genau -, lächelte sie gütig und abwehrend in einem: Die
Hauptsache, sagte sie, meine Kinder kommen in den Himmel, alles andere ist nicht
wichtig.
Dem ist, so
scheint mir, nichts mehr hinzuzufügen.
Was ist das Fegefeuer
Die Hände zum Gebet gefaltet, die Augen gläubig und gottergeben zum Himmel oder auf das Kreuz gerichtet - so stehen in vielen Darstellungen die "armen Seelen" bis zur halben Körperhöhe in den Flammen. Diese Kunstwerke mögen ein Mitgrund sein, warum das Fegefeuer so tief im Bewusstsein der Menschen verankert ist. In der Vorstellungskraft ja, aber auch im Glauben? Nein, da scheint die Argumentation der Gegner gesiegt zu haben: Da die Hl. Schrift nicht ausdrücklich davon redet, glaubt man die Kirche bei einer ihrer "Erfindungen" ertappt zu haben, die man, wahrheitsgemäßer, eigentlich "Schwindel" nennen müsste. Daher belächeln viele Leute, aufgeklärt und vernünftig, wie sie nun einmal sind, die Lehre vom Fegefeuer. Zugute kommt ihnen dabei gerade auch jene fantasievolle Anschaulichkeit, mit der diese Lehre ausgeschmückt wurde: So kann man sie leicht lächerlich machen oder als abstrus hinstellen - man erspart sich damit die ernsthafte Diskussion der Frage.
Die Skeptiker und Belächler sehen sich allerdings mit einem geradezu unverwüstlichen, verblüffenden Glauben an das Fegefeuer konfrontiert: Es gibt kaum Menschen, die nicht dankbar nicken, wenn man ihnen das Gebet für ihre Toten verspricht. Ja, Menschen, die sonst nie in die Kirche gehen, verlangen ein kirchlicher Begräbnis und bestellen eine Messe für ihre Verstorbenen. Aber auch wenn sie nicht darüber nachdenken, ihr Verhalten zeigt eine verdrängte Tiefe ihrer Seele an, in der sie an das Fegefeuer sehr wohl glauben. Denn wer für Verstorbene betet, setzt logisch zwingend voraus:
- dass Gott existiert;
- dass es ein Leben nach dem Tode gibt;
- dass Gott der Richter der Menschen ist;
- dass die Sünden eines Menschen ihn in der jenseitigen Welt schmerzhaft belasten;
- dass eine Reinigung von der Sünde notwendig und möglich ist;
- dass wir, die noch Lebenden, durch unser Gebet zur Erlösung dieser "armen" Seelen beitragen können.
Mit anderen Worten: Im Gebet für die Toten ist das halbe Glaubensbekenntnis enthalten! Pointiert gesagt: Wäre das alles nicht wahr und würde das Fegefeuer nicht existieren, dann wären Gebete und Messen für Verstorbene so sinnvoll wie Penecillin für einen Toten! Daher ist die Frage nach dem Fegefeuer näher zu klären.
I. Die Lehre der Kirche
Was meint die Kirche wirklich, wenn sie vom "Fegefeuer" redet? Der KKK gibt eine klare Antwort:
"Wer in der Gnade und Freundschaft Gottes stirbt, aber noch nicht vollkommen geläutert ist, ist zwar seines ewigen Heiles sicher, macht aber nach dem Tod eine Läuterung durch, um die Heiligkeit zu erlangen, die notwendig ist, in die Freude des Himmels eingehen zu können."
Für diese Lehre beruft sich die Kirche einerseits auf biblische Texte und deren Auslegung in ihrer Tradition, andererseits stützt sie sich auch auf die uralte Praxis, für die Verstorbenen zu beten.
II. Was das Fegefeuer nicht ist
Aus der Beschreibung des Fegefeuers, wie sie der Katechismus ebenso nüchtern wie genau, ohne irgendwelche fantasievolle Ausschmückungen, vorlegt, ergibt sich, was das Fegefeuer nicht ist:
* Das Fegefeuer ist nicht eine Art vergängliche Hölle. Denn zwischen Hölle und Fegefeuer liegen Welten:
- Die Hölle ist der unvorstellbar grauenhafte Zustand von Menschen und gefallenen Engeln, die sich in ihre Auflehnung gegen Gott und ihren Hass gegen Ihn geradezu verbissen haben. Sie sind ohne jede Liebe, verhärtet im Bösen, unerbittlich in ihrem Nein zur Welt Gottes - unglücklich, ja, aber sie wollen um buchstäblich keinen Preis ihre Einstellung ändern.
- Das Fegefeuer ist etwas ganz anderes. Es ist geradezu ein Teil, ein Vorzimmer des Himmels. Hier herrscht die Liebe, und J. Guitton, ein großer Theologe unseres Jahrhunderts, hat es treffend ein "Freudenfeuer" genannt. Die Menschen im Fegefeuer - Teufel gibt es dort nicht - wissen, dass sie gerettet sind und sie sehnen sich nach Gott.
Fegefeuer und Hölle sind "Orte" des Leidens, aber dieses "Leiden" ist jeweils ganz anderer Natur!
* Das Fegefeuer ist auch keine göttliche Folterkammer, kein jenseitiges Konzentrationslager - als ob Gott hier nochmals "Rache" üben wollte. Verstehen kann man das Wesen dieses "Feuers" nur vom Wesen der Sünde und vom Wesen der Liebe her. Übrigens ersetzen andere Sprachen das Bild des "Feuer" durch den Begriff des "Purgatoriums", der "Reinigung" meint und für den heutigen Menschen vielleicht leichter verständlich ist.
III. Einige Klärungen zum Fegefeuer
Niemand hat im Lauf der Kirchengeschichte so eingehend über das Fegefeuer gesprochen wie Katharina von Genua, eine große Mystikerin des 15. Jahrhunderts. Dabei lässt sie sich nicht von ihrer Fantasie leiten. Bestimmend sind auch nicht theologische Überlegungen, sondern ihre mystischen Erfahrungen bezüglich dessen, was das Fegefeuer wirklich ist.
1. Das Fegefeuer ist ein Feuer der Liebe
Der erste Satz ihrer Abhandlung über das Fegefeuer lautet: Katharina befand sich
"noch im Fleische, als sie in das Fegefeuer der Läuterung heiliger Gottesliebe
versetzt wurde". Das ist es: eine Läuterung, die durch die Liebe bewirkt wird!
Wenn jemand plötzlich begreift, wie sehr er von jemand anderem wirklich geliebt
wurde und wie wenig er dieser Liebe entsprochen hat, so löst diese Erkenntnis in
ihm einen tiefen Schmerz aus: Wie konnte ich nur! Aber genau das ereignet sich,
wenn der Mensch die erste Gottesbegegnung in der Ewigkeit hat. Denn: "Gott ist
ja lauter Barmherzigkeit und steht mit seinen uns entgegen gestreckten Armen da,
um uns in seine Herrlichkeit aufzunehmen". Dem steht gegenüber die Erkenntnis,
dass da etwas in der Seele ist, "das Gott missfällt und das sie freiwillig gegen
eine so große Güte Gottes begangen hat" - und darin, in diesem Gegenüber von
Liebe Gottes und sündigem Hindernis im Menschen besteht "die schmerzliche
Strafe" des Fegefeuers.
Besonders ergreifend und einleuchtend beschreibt Katharina das Fegefeuer im 9. Kapitel: "Wenn die Seele kraft der inneren Schau sich von Gott durch ein so großes Feuer der Liebe angezogen fühlt, so zerfließt sie ganz in der Glut dieser feurigen Liebe ihres süßen Gottes, die sie in ihren Geist einströmen fühlt. Wenn sie dann in jenem göttlichen Licht sieht, wie Gott nie aufhört, sie an sich zu ziehen und sie liebvoll zu ihrer totalen Vollendung zu führen, und zwar mit soviel Sorge und Umsicht, und das alles nur aus lauter Liebe, wenn also die Seele das sieht und ihr Gott in seinem Lichte zeigt, dass sie sich in jenem Hindernis befindet, auf Grund dessen sie noch nicht dieser Anziehungskraft der einigenden Liebe Gottes, die er ihr zuwendet, folgen kann; und wenn die Seele dann auch noch einsieht, was es für sie bedeutet, noch zurückgehalten zu werden und das göttliche Licht noch nicht schauen zu können; und wenn dazu noch jener Drang der Seele kommt, die ohne Hindernis sein möchte, um sich von dieser einigenden Liebe anziehen zu lassen, so sage ich, dass die Erkenntnis all dieser vorhin genannten Dinge das ist, was jene schmerzliche Qual erzeugt, die die Seelen im Fegefeuer erleiden".
2. Christus selbst ist das richtende Feuer
Es ist nicht nur nicht ein Widerspruch, sondern nur eine andere Weise, das
Gemeinte zu vermitteln, wenn man von Paulus ausgeht, der sagt: Was einer in
seinem Leben baut, wird der Tag des Herrn ans Licht bringen, weil "die
Offenbarung im Feuer geschieht und, wie das Werk eines jeden ist, wird das Feuer
erproben. Wenn das Werk von einem, das er gebaut hat, standhält, wird er Lohn
empfangen. Verbrennt aber das Werk von einem, so wird er Schaden leiden; er
selbst wird gerettet werden, jedoch wie durch Feuer". Gerade wenn man mit der
modernen Exegese anerkennt, dass das gemeinte "Feuer" der Herr selbst ist, hat
man den genauen, christlichen Begriff des Fegefeuers erreicht: "Liegt die wahre
Verchristlichung des frühjüdischen Fegfeuergedankens nicht eben in der
Erkenntnis, dass die Reinigung nicht durch irgend etwas geschieht, sondern durch
die umwandelnde Kraft des Herrn, der unser verschlossenes Herz frei brennt und
umschmilzt, so dass es taugt in den lebendigen Organismus seines Leibes
hinein?".
3. Der Mensch "geht" freiwillig ins Fegefeuer
"Die vom Leib getrennte Seele, die sich noch nicht in jener Reinheit befindet,
in der sie erschaffen worden war, stürzt sich, da sie das Hindernis, das sie in
sich hat, erkennt und darum weiß, dass dieses Hindernis nur mittels des
Fegefeuers behoben werden kann, sogleich freiwillig dort hinein".
Das mag überraschen, aber es entspricht der Logik der Liebe. Der Liebende, der seine Schuld erkennt, will unbedingt wieder gutmachen und seine Taten gegen den Geist der Liebe ausräumen, ja ungeschehen machen.
4. Das Bild des reinigenden Feuers
Auch Katharina bedient sich des Bildes vom Feuer: Die Sünde vergleicht sie mit
einem "Rost der Seele", der durch das Feuer der Liebe verzehrt wird. Dadurch
wird die Seele wieder frei für die "Bestrahlung der wahren Sonne, die Gott ist".
Ein anderes Bild, dessen sich Katharina bedient, ist der Hunger: Im Fegefeuer
weiß der Mensch, dass er einmal gestillt wird.
5. Das Fegefeuer - Ort des Leidens, der Barmherzigkeit und der Freude
- Ohne Zweifel, das Fegefeuer ist ein Ort brennenden Schmerzes, der sich aus der
noch unerfüllten Sehnsucht nach Gott ergibt. Oder auch: Fegefeuer ist nichts
anderes als behinderte Liebe zu Gott. Mit Nachdruck besteht Katharina darauf:
Dieser Schmerz ist so groß, dass sie ihn nicht beschreiben kann. In dem Maße
aber, in dem die Reinigung voranschreitet, nimmt auch der Schmerz ab.
- Gleichzeitig aber begreifen die betroffenen "armen Seelen": Was sie erleiden, ist eine Barmherzigkeit Gottes im Vergleich zu dem, was sie verdient hätten - "zumal sie nun einsehen, was Gott bedeutet". Darum "sehen sie ein, dass ihnen eine große Barmherzigkeit erwiesen wurde". Folgerichtig, aber für uns Menschen doch auch erstaunlich fährt Katharina fort: Die armen Seelen "erleiden deshalb die schmerzliche Pein des Fegefeuers gerne und sie möchten nicht auf ein einziges Quantum davon verzichten, weil es ihnen scheint, dass sie es gerechterweise verdienen, und dass es so gut angeordnet ist".
- Wenn die Theologen sagen, dass schon das irdische Leben ein "Anfang" des ewigen Lebens ist, so gilt das erst recht vom Fegefeuer. Die armen Seelen haben ja bereits die "absolute Sicherheit: Sie sind in der Ewigkeit, auf der richtigen Seite der Ewigkeit", und darum ist in ihnen bereits "ein tiefes Meer von Frieden und Heiterkeit": Katharina lehrt ebenso: "Ich glaube nicht, dass es eine Zufriedenheit gibt, die mit jener Seele im Fegfeuer verglichen werden kann, außer jener Zufriedenheit, die die Heiligen im Paradies haben. Und jeden Tag wächst diese Zufriedenheit in diesen Seelen durch Gottes entsprechende Einwirkung; diese Zufriedenheit wächst, weil jeden Tag das Hindernis für die entsprechende göttliche Einwirkung abnimmt".
6. Die Notwendigkeit des Fegefeuers
Könnte Gott das Fegefeuer den Verstorbenen nicht einfach erlassen? Nein, denn
lieber ginge die Seele "noch in tausend Höllen, wenn sie die Wahl hätte, als in
der Gegenwart Gottes noch nicht ganz und gar gereinigt und geläutert zu
erscheinen". Die Entstellung der Sünde steht im Widerspruch zur
Gottes-Bestimmung des Menschen. Darum ist das Fegfeuer "der von innen her
notwendige Prozess der Umwandlung des Menschen, in dem er christus-fähig,
gott-fähig und so fähig zur Einheit mit der ganzen Communio sanctorum
(=Gemeinschaft der Heiligen) wird. Wer nur einigermaßen realistisch den Menschen
betrachtet, wird die Notwendigkeit solchen Geschehens begreifen...". Einfacher
und in der Sprache des Volkes sagt M. Simma: “Können wir uns ein junges Mädchen
vorstellen, das mit schmutzigen Kleidern und ungepflegten Haaren am ersten Ball
teilnehmen möchte?” Weil die Seele ein so tiefes, überwältigendes Bild von Gott
hat, ist ihr die Vorstellung, “beschmutzt” vor ihn hinzutreten, unerträglich.
7. Können wir für arme Seelen beten?
Ja, das zeigt die Hl. Schrift und das zeigt die Praxis der Kirche, ja man darf
hinzufügen: Das zeigen auch die Anleitungen in vielen anderen Religionen. Ist
das ein Art Feilschen mit Gott? Nein, es geht vielmehr um die christliche
Solidarität und Liebe, für die die Grenze des Todes nicht gilt.
8. Können uns die armen Seelen helfen?
Die Möglichkeit des Helfens geht in beide Richtungen weiter: Von den Lebenden zu
denen, die schon heimgegangen sind, und von den Verstorbenen, den Heiligen und
den armen Seelen, zu uns.
9. Wie lange dauert das Fegefeuer?
Die volkstümlichen Zeitangaben sind wohl nur als Krücke anzusehen, um eine
tiefere Wahrheit auszusprechen: Das Fegefeuer ist seinem Wesen nach ein Ausdruck
der Gerechtigkeit Gottes, und darum unterschiedlich. Der Mensch drückt,
entsprechend seiner Fassungskraft, quantitativ - durch Zeitangaben - aus, was
vor allem eine Frage der Qualität ist: je nach Intensität des Leidens. Wie wir
uns “Zeit” nach dem Tod denken sollen, wissen wir nicht.
10. Können arme Seelen erscheinen?
Angesichts der Sensationsgier und des Aberglaubens, der sich damit verbinden
kann, eine heikle Frage! Auch ist an den hl. Don Bosco zu erinnern: Mit einem
Freund hatte er sich ausgemacht, derjenige, der zuerst sterben werde, sollte dem
anderen ein Zeichen aus der jenseitigen Welt geben. Tatsächlich starb dieser
Freund, und auch das Zeichen kam - aber verbunden mit der strengen Mahnung,
solche Abmachungen in Hinkunft zu unterlassen. Totenbeschwörung sind dem
Christen verboten.
Andererseits heißt es bei Matthäus: "Nach der Auferstehung Jesu verließen (viele Heilige) ihre Gräber, kamen in die Heilige Stadt und erschienen vielen". Auch die Erscheinungen am Berge Tabor sollte man in diesem Kontext ernst nehmen: Tote darf man nicht herbeizwingen wollen, aber in seltenen Fällen können sie, mit der Erlaubnis Gottes, "erscheinen", sich bemerkbar machen. Wenn man natürlich an ein Weiterleben nach dem Tod nicht glaubt, muss man diese Möglichkeit logischerweise bestreiten, was immer geschieht!
Tatsächlich gibt es Phänomene, die zum Glauben der Kirche "passen". Niemandem ist es verwehrt, nach ernsthafter Prüfung und in Abgrenzung von rein parapsychologischen Phänomenen einzelne Berichte über arme Seelen oder Verstorbene für wahr zu halten . Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, das es solche "Erscheinungen" bei allen Völkern in der Welt gibt. Besonders häufig scheinen sie sich in der Zeit unmittelbar nach dem Tod des Betroffenen zu ereignen.
Ich selbst weiß immerhin von drei solchen Berichten, die sich alle auf Selbstmörder beziehen und die ich von Personen hörte, an deren nüchternem Verstand ich keinen Zweifel hegen kann:
- Eine Frau träumte von der Tochter von Freunden, die sich das Leben genommen hatte. Auf ihre erstaunte Frage, was sie denn wolle, antwortete das Mädchen: Sag meinen Eltern, sie sollen nicht traurig sein, ich bin glücklich.
- Die zweite Geschichte erzählte mir ein Freund aus Taiwan, der zu dieser Zeit Kriminalistik studierte und zugleich Judolehrer war. Ich erwähne diese Äußerlichkeiten nur, um zu zeigen, dass er in jeder Hinsicht ein Mann war, der mit beiden Füßen im Leben stand. Übrigens bezeichnete er sich selbst als Agnostiker: Er hatte einst als Offizier eine Grenze zu bewachen. Als Soldaten ihm berichteten, an einer Stelle jenseits der Grenze wäre unter einem Baum immer wieder eine weinende Frau gesehen worden, übernahm er selbst die Nachtwache mit der Begründung: Soldaten, die Angst haben, sind schlechte Soldaten, und darum wolle er der Sache selbst nachgehen. Aber auch er sah die Frau, die auf kein Zurufen reagierte und bei Annäherung verschwand. Am nächsten Tag zog er Erkundigungen ein und erfuhr: Dort hatte sich vor kurzem eine junge Frau das Leben genommen. Er bestellte einen Gottesdienst, und die Frau wurde nicht mehr gesehen.
- In Folge einer schweren Depression stürzte sich ein Mann aus dem Fenster. Unmittelbar danach beteten sein Bruder, ein Priester und eine befreundete Frau den Rosenkranz für den Toten. Danach erzählte die Frau: Während wir beteten, sah ich ihn unter uns sitzen! Später sah sie ihn nochmals: auf ihrer Terrasse, während des Autofahrens und ein letztes Mal am Friedhof. Während er am Anfang glücklich aussah, schien er bei dem Gesicht während der Autofahrt um Hilfe zu bitten. Zur Vollständigkeit der Geschichte gehört: Die Frau, die den Toten “sah”, hat immer wieder parapsychologische Gesichte: Plötzlich sieht sie den Menschen, der sie Sekunden später anruft oder eine ihr nahe stehende Person bei irgendeiner Tätigkeit. Bei ihrer Matura sah sie den Prüfungstext schon im voraus und konnte zum Erstaunen des Lehrers ihre Arbeit in kürzester Zeit abgeben - übrigens wird eine ganz ähnliche Geschichte auch aus dem Leben des hl. Don Bosco erzählt.
Viele andere Geschichten könnte man anführen. Aber darauf kommt es nicht an. Viel wichtiger ist: Den Glauben an die Ewigkeit vorausgesetzt, ist das Fegefeuer geradezu eine Forderung der Vernunft, sozusagen das “fehlende Glied” zwischen dem Glauben an den Himmel und der Erfahrung, wie mittelmäßig viele Menschen leben. Es wäre eine ungereimte Vorstellung, diese “guten” Menschen könnten trotz ihrer Halbheiten in die Gemeinschaft mit Gott gelangen. Auf diese Frage antwortet die Lehre vom Fegefeuer: Ja, der Einwand ist richtig, denn so wie sie sind, können und wollen sie nicht vor Gott hintreten, obwohl ihre Grundentscheidung gut war. Darum bedürfen sie eben der Reinigung, die, Gott sei Dank, über die Todesgrenze hinaus möglich ist. So gesehen kann man nur jenem unbekannten Autor zustimmen, der gesagt hat: “Das Fegfeuer ist eine der humansten und schönsten Vorstellungen, die man sich denken kann”