10. Katechese 2000/2001
Hoffnung über den Tod hinaus
von Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn
Stephansdom, Wien
am 17. Juni 2001
I.
Hoffnung über den Tod hinaus, so ist das Thema unserer letzten Katechese in diesem Schuljahr, Arbeitsjahr, in diesem Jahr unserer Pfarr- und Gemeindeaktivitäten. Ich möchte beginnen mit einem Wort aus den Bekenntnissen des hl. Augustinus. Es ist ein Abschnitt aus dem IX. Buch. Augustinus ist zum Glauben gekommen, er hat sich taufen lassen. Nach langem Ringen ist er von Ambrosius in Mailand getauft worden und ist nun mit seiner Mutter Monika auf der Rückreise nach Nordafrika, in seine Heimat. In Ostia machen sie Station. Darüber sagt Augustinus: „Schon nahte der Tag, da sie [Monika] aus diesem Leben scheiden sollte - Du kanntest ihn, während wir nicht darum wussten. Da traf es sich, sicher aufgrund Deiner verborgenen Fügung, dass wir beide, sie und ich, allein an ein Fenster gelehnt standen, angesichts des zum Hause gehörigen Gartens. Es war in Ostia, an der Tibermündung, wo wir, dem Gedränge entrückt, nach der Mühsal der langen Reise uns Kräfte für die Überfahrt sammelten. Wir unterhielten uns also allein, in einem innigen Beisammensein, und ‘das Vergangene vergessend, ausgespannt nach dem, was vor uns liegt’ (Phil 3,13), aber in der Gegenwart deiner Wahrheit, suchten wir fragend nach Dir: was Du bist, was das ewige Leben der Heiligen sein mag, das ‘kein Auge geschaut, kein Ohr gehört und das in keines Menschen Herz aufgestiegen ist’ (1 Kor 2,9). Der Mund unseres Herzens lechzte groß offen nach Deinem von oben rieselnden Wasser, [dem Wasser] Deiner Quelle, der ‘Quelle des Lebens’, die ‘bei Dir ist’ (Ps 36,10), um unserem Fassungsvermögen gemäß benetzt das Erhabene in den Blick zu bekommen.“ Das Gespräch führte uns zu diesem Ergebnis: die Freude der irdischen Sinne mag noch so groß sein, noch so köstlich im irdischen Lichte schimmern, mit dem Jubel jenes Lebens ist sie nicht zu vergleichen, ja nicht einmal erwähnenswert“ (Bekenntnisse IX,10,23-24; Üs. Balthasar 228-229). Etwas weiter sagt Augustinus in diesem Gespräch über das ewige Leben, da hätten sie „einen vollen Schlag des Herzens lang“ herangerührt an die Wirklichkeit, nach der sie sich sehnten, nach dem ewigen Leben (ebd.). Kurz darauf ist Monika in Ostia gestorben. Augustinus hat sie bestattet und ist dann nach Nordafrika, in seine Heimat, weitergereist.
Mit Augustinus und Monika halten wir also Ausschau nach dem ewigen Leben. Haben
wir wie sie Sehnsucht nach dem Himmel, nach dem ewigen Leben, Sehnsucht, nach
Hause zu kommen, daheim zu sein? Darf ich mich freuen auf das ewige Leben? Darf
ich mich danach sehnen? Oder ist das Weltflucht, ausweichen vor der
Verantwortung? Kann ich mich auf das ewige Leben freuen? Muss ich es nicht
vielmehr fürchten, wenn ich an die Stunde der Rechenschaft denke? Wenn ich daran
denke, dass ich über mein Leben Bilanz ziehen muss: Wie wird sie aussehen? Auf
welcher Seite werde ich zu stehen kommen? Hat nicht der Herr klar davon
gesprochen, dass es eine Scheidung geben wird: die zur Rechten und die zur
Linken, die einen zum Leben und die andern zur Verderbnis (Mt 25,31-46)? Also
die Frage: Einerseits darf ich mich aus ganzem Herzen nach dem ewigen Leben
sehnen und ausstrecken?, anderseits die Frage: Kann ich mein Lebensziel
verfehlen? Kann ich verloren gehen, für immer verloren gehen?
Wir stehen hier vor einem dunklen Geheimnis, aber der Verdacht steht in unserer Zeit seit der Aufklärung, dass die Dunkelheit dieses Geheimnisses eher klerikale Angstmache ist, Drohung mit der Gefahr der Hölle um die Leute zu schrecken, dass sie brav und anständig sind. Heute scheint dagegen das volkstümliche: „Wir kommen alle, alle in den Himmel“, eher das Lebensgefühl zu sein, „weil wir“, wie es in dem etwas banalen Lied heißt, „so brav sind“. Gleichzeitig aber gibt es bei vielen das Gespür, dass es doch nicht einfach ohne Gerechtigkeit gehen kann, dass es doch nicht einfach so sein kann, dass Gut und Böse gar keine Folgen haben, dass es im Endeffekt egal ist, wie ich lebe und was ich mache. Wird da nicht alles beliebig? Verliert nicht die Gerechtigkeit ihre Köstlichkeit aber auch ihren Ernst, wenn letztlich Gerechte und Ungerechte genauso behandelt werden vor dem Gericht Gottes?
II.
Es gibt noch eine andere Variante, die heute sehr verbreitet ist, die überhaupt darauf verzichtet, dass es Sache Gottes ist, das Gericht zu haben, die sich auf eine Art „endloses Selbstgericht“ einstellt in der Form der Reinkarnation, der Wiedergeburten, in denen wir in vielen Leben, die wir schon gelebt haben oder noch leben werden, das Karma abzubauen haben, das wir angesammelt haben, also jene Folgen vom Bösen, vom Unguten in unserm Leben, die wir auch selber abzubauen haben. Manche sehen darin eine Art von Gerechtigkeit, dass ich die Chance habe, das, was ich in diesem Leben verpatzt habe, in einem künftigen Leben wieder gut machen kann.
Nun sagt uns
der Glaube eindeutig, dass es nur dieses eine irdische Leben gibt. Die Debatte
darüber, ob es Worte in der Heiligen Schrift gibt, die vielleicht doch von einer
Reinkarnation, von künftigen, weiteren Leben auf dieser Erde sprechen, diese
Debatte möchte ich hier nicht ausfalten. Ich glaube sagen zu können, dass kein
Wort der Schrift sinnvoller Weise als Bestätigung der Reinkarnationslehre
gedeutet werden kann. Der Glaube sagt uns, es gibt nur dieses eine Leben und
dann das ewige Leben. Das bedeutet aber, dass jeder Moment dieses Lebens
unwiederbringlich ist, einmalig. Wenn er vergangen ist, ist er gewesen und nicht
wiederholbar und daher auch so kostbar. Letztlich ist das wohl auch der Grund,
warum für uns die Zeit auch köstlich ist, eben weil sie nicht beliebig
wiederholbar ist.
Unser Glaube lehrt uns freilich auch, dass es die Möglichkeit der Läuterung
gibt, dass mit dem Tod wohl der irdische Weg endgültig zu Ende ist, dass wir
aber für einander eintreten können, damit Läuterung geschieht nach dem Tod.
Sonst hätte das Gebet für die Verstorbenen ja keinen Sinn. Hier zeigt uns die
Praxis der Kirche durch alle Jahrhunderte, dass das Gebet für die Verstorbenen
ihnen helfen kann. Die vielen Epitaphien rund herum im Dom erinnern uns an
diesen Glauben und natürlich auch alles, was unsere Begräbnisriten umgibt.
Es geht also um die Frage, sagen wir es schlicht und einfach, von Himmel, Hölle und Fegfeuer. Ich frage Sie: Wie oft hören Sie darüber predigen? In meiner Kinderzeit, kann ich mich erinnern, unser Pfarrer, der schon sehr betagt war, hat, zumindest empfand ich es so, sehr lange gepredigt, endlos lange. Aber wenn auf der Kanzel oben die Rede vom ewigen Leben war, dann wusste man, dass die Predigt zum Ende kommt, weil am Schluss immer die Rede vom ewigen Leben war. Das macht es heute so schwierig, zu erraten, wann die Predigt zu Ende sein wird, weil davon so selten die Rede ist. Vielleicht ist es der verinnerlichte Verdacht, den der Marxismus in die Welt gesetzt hat und der nach wie vor wirkt, so scheint es mir, der Verdacht, dass ein zu starkes Ausblicken nach dem ewigen Leben eine Vertröstung sein könnte. Marx hat dem Christentum, ja überhaupt der Religion vorgeworfen, dass sie Opium sei, den Schmerz, das Leid vergessen mache und vertröste auf das bessere Jenseits. Statt die Welt zu verbessern vertröstet man auf die andere Welt. Ich glaube aber, wenn das eine Rolle spielt im Vergessen der Letzten Dinge, wie es die Theologie nennt, also Tod, Himmel, Fegfeuer, Hölle, eben jener Themen, die mit den Letzten Dingen des menschlichen Lebens verbunden sind, wenn der Marxismus hier mit seinem Verdacht der Vertröstung eine Rolle gespielt hat im Vergessen oder Vernachlässigen dieses Themas, dann spielt heute vielleicht noch etwas anderes eine Rolle. Das scheint mir noch radikaler zu sein, als der marxistische Verdacht. Irgendwie scheint mir, dass die oberste Lebensmaxime heute „Wellness“ ist, man muss sich wohl fühlen. Wichtiger als richtig oder falsch, als gut oder böse ist wohl fühlen. Sicher ist es etwas Schönes, wenn wir uns wohl fühlen. Aber wenn „Wellness“ zur Lebensmaxime wird, dann wird alles daran bemessen, was etwas jetzt bringt. Die klassischen Themen der christlichen Verkündigung sind uns irgendwie fremd geworden. Ich fürchte, das geht bis in den Kern unserer Gemeinden hinein.
Das Lied, das ich oft zitiere, es ist uns irgendwie als Lebensgefühl fremd geworden: „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ew’gen Heimat zu“ (Gotteslob 656). Ist dieses „Wir sind nur Gast auf Erden“ etwas, was das Grundgefühl des christlichen Lebens heute bestimmt? Ist das Thema der Kürze des Lebens ein Thema, das uns bewegt? Jahrhunderte lang war es in der geistlichen Literatur ein Dauerthema, nicht nur bei den Christen auch in der Antike, bei Marc Aurel zum Beispiel: die Kürze des Lebens. Wir sind nur Pilger. Eine kurze Zeit ist uns zugemessen und zu dieser Gewissheit oder diesem Grundgespür für die Kürze des Lebens gehört auch das Bild vom Tränental. Unser Leben leben wir in „hac lacrimarum valle“, „in diesem Tränental“, wie es im Salve Regina, in der Marienantiphon heißt, im Tränental. Zwar spricht ständig vieles dafür, dass es so ist, aber irgendwie wird es nicht ausgesprochen. Es ist verdrängt. Und doch, wie vieles lässt sich besser ertragen in dieser kurzen Pilgerschaft unseres irdischen Lebens, wenn wir wissen, wir sind nur Gast auf Erden, und dieses Leben ist in einem Tränental.
Übrigens hat das Bild vom Tränental ja etwas sehr Hoffnungsvolles. Ein Tal, das ist nicht ein Kessel, ein abgeschlossener, sondern es hat eine Richtung, es geht ins Offene, ins Weite hinaus. Ein Tal ist nicht eine Bleikammer, die oben verschlossen ist, sondern es ist nach oben offen, aber eben nach oben und nach vorne, genau wie unser Leben. Aber vielleicht noch vergessener ist, dass das ewige Leben jetzt schon beginnt, dass wir jetzt schon in einer gewissen Weise nach Hause finden können, um einen Preis freilich, unter der einen Voraussetzung, dass wir umkehren, wie Jesus in seinem ersten öffentlichen Wort sagt: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15), und dass dort, wo Umkehr geschieht, Bekehrung geschieht, neues Leben erfahren wird und dass das ewige Leben schon etwas ist, was jetzt erfahrbar wird durch Christus. Vielleicht ist das überhaupt die am meisten verkannte Seite der christlichen Botschaft. Es gibt nur einen Weg zum Leben, zu einem Leben, das kein Tod zerstören kann, das ist die Umkehr. „Wenn ihr euch nicht bekehrt, werdet ihr alle so zugrunde gehen“, sagt Jesus seinen Zuhörern in Jerusalem (Lk 13,3.5). Aber wenn ihr euch bekehrt, dann kann das Leben schon jetzt beginnen, das ewige Leben. Ohne Bekehrung läuft gar nichts. Sie ist der Kern der christlichen Botschaft.
III.
Nun komme ich zu einem Wort, dass das Schlüsselwort dieser Katechese ist. Es ist ein erschreckendes aber, wie wir hoffentlich sehen werden, auch ein beglückendes Wort. Es ist das letzte Wort Jesu im Markusevangelium. Dort sagt der Herr seinen Jüngern: „Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk 16,16). Wir sehen, Frohbotschaft und Drohbotschaft, das lässt sich nicht gegeneinander ausspielen. Es ist ein wunderbares aber auch ein erschreckendes Wort. Aber es ist ein notwendiges Wort. Jesus ist ja der Arzt. Er gibt uns die notwendige Medizin. Das erste Wort des Herrn im Markusevangelium, ich habe es schon gesagt, ist: „Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Das ist das Entscheidende an der christlichen Botschaft: der Ruf zur Entscheidung und zur Umkehr. Aber in diesem Ruf ist gleichzeitig die Verheißung: Wähle das Leben! Entscheide dich für den Weg des Lebens und nicht für den Weg des Todes! Schon im Alten Testament wird uns klar vor Augen gestellt: Es gibt zwei Wege, der eine führt zum Leben, der andere führt zum Tod. Ich muss mich entscheiden. Wie ich mich entscheide, das hat Konsequenzen für dieses und auch für das kommende Leben. Wenn ich mich nicht entscheide, habe ich mich bereits entschieden für den Weg des Todes. Wenn ich mich entscheide, dann heißt das auch, dass ich mich richtig oder falsch entscheiden kann, zielführend oder irreführend. Natürlich kann ich oft eine Kurskorrektur vornehmen. Wenn ich einen falschen Weg eingeschlagen habe, kann ich oft, Gott sei dank, zurückkehren, umkehren und den richtigen Weg suchen. Manchmal kann ich das nicht mehr, weil die Wahl eines Weges, eines irrigen Weges mich auch zu Folgen gebracht hat, die unumkehrbar sind. Diese Folgen fixieren mich und auch andere. Ich habe diese Folgen zu tragen. Aber so lange ich auf dem Weg bin, so lange mein irdischer Weg geht, kann ich zumindest bereuen, dass ich einen falschen Weg eingeschlagen habe. Wenn ich es bereue, dann gehe ich eigentlich an die Stelle zurück, wo ich den falschen Weg gewählt habe und bekenne: Das war damals eine falsche Wahl. Auch wenn die Folgen nicht mehr rückgängig zu machen sind, so kann ich doch seelisch einen Neuanfang finden, indem ich bereue, mich bekenne zur falschen Entscheidung, sie bereue und mit einem neuen Weg beginne. Die Reue ist wirklich ein Neuanfang, auch wenn ich die Konsequenzen meiner falschen Entscheidungen tragen muss.
IV.
Wie ist das mit dem Tod? Nach dem Glauben der Kirche endet mit dem Tod die Pilgerschaft. Damit bin ich endgültig auf dem Weg, den ich gewählt habe. Ich bin am Ziel angelangt. Ich bin endgültig am Ziel, es gibt dann kein Zurück mehr. Dann ist es tatsächlich so: Entweder habe ich den Weg verfehlt oder gefunden. Das klingt sehr erschreckend und ist es auch, es ist erschreckend. Wenn es tatsächlich so ist, dass wir auf diese Endgültigkeit hin unterwegs sind, dann ist das wirklich erschreckend. Dann kann es tatsächlich ewiges Glück oder ewiges Unglück geben. Es ist eigenartig, dass in unserer Verkündigung heute und vielleicht auch vielfach in unserm Lebensgefühl die Elemente aus der Botschaft Jesu fast herausgefiltert sind, die von dieser Wirklichkeit sprechen. Ich nenne nur drei Gleichnisse. Sie stehen alle in einem Kapitel bei Matthäus (25. Kap.), drei ganz bekannte Gleichnisse, die Jesus in Jerusalem kurz vor seiner Passion spricht, im Ernst dieser Entscheidungssituation:
(1) Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen (Mt 25,1-13), die fünf klugen und die fünf törichten. Als die Tür verschlossen ist und sie dann kommen und, nachdem sie sich das Öl geholt haben, feststellen: Es ist zu spät, sagt der Bräutigam zu den törichten: „Amen, ich kenne euch nicht“ (Mt 25,12). Damit sagt also Jesus: Es gibt ein zu spät! Es gibt ein Versäumen der Möglichkeiten. Es gibt ein Versäumen der Vorbereitung auf diese Stunde. Jesus schließt das Gleichnis mit dem Wort: „Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde“ (Mt 25,13).
(2) Das zweite Gleichnis ist das vom Anvertrauten Geld (Mt 25,14-30): Einem vertraut der Besitzer, der Gutsherr fünf Talente an, fünf Silberminen, einem andern zwei und einem dritten eine. Dem, der fünf bekommen hat, und dem, der zwei bekommen hat, die gut damit gewirtschaftet haben, sagt der Herr im Gleichnis: „Komm, du treuer Knecht, teile die Freude deines Herrn“ (Mt 25,21.23). Dem, der das eine Talent vergraben hat, sagt er: „Werft den nichtsnutzigen Knecht hinaus in die äußerste Finsternis. Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen“ (Mt 25,30). Also auch hier die Entscheidungssituation, die zu einer definitiven, endgültigen Situation führt.
(3) Das dritte, das bekannteste Gleichnis ist das vom Weltgericht (Mt 25,31-46), wo er die Völker scheiden wird, zur Rechten und zur Linken. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt er denen zur Rechten (Mt 25,40). - In einem Kindergarten, so wurde mir erzählt, hat die Kindergartentante dieses Gleichnis den Kindern erzählt und sie es dann nacherzählen lassen. Dann hat ein Kind erzählt: Denen zur Rechten sagt er: Kommt, ihr gesegneten meines Vaters!, und zu denen zur Linken hat er gesagt: Geht’s weg, ihr macht’s mich nervös! Man hört, was die Mutter zu Hause dem Kind gesagt hat. - „Was ihr dem geringsten meiner Brüder nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan.“ Dann heißt es im letzten Vers: „Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben“ (Mt 25,45-46).
V.
Wir sind von der Sehnsucht nach dem Himmel ausgegangen mit Monika und Augustinus in Ostia und sind geendet bei der Drohbotschaft. Was bleibt von der Frohbotschaft? Versuchen wir, etwas Licht in diese wirklich dunkle Frage zu bringen. Ich glaube, es ist eine doppelte Frage: Erstens was ist überhaupt ewiges Leben? Zweitens die Frage nach dem Gericht, nach Himmel und Hölle. Wir werden sehen, die Antwort auf das ewige Leben ist nicht zuerst eine philosophische Frage: Gibt es ein Weiterleben der Seele nach dem Tod? Die Philosophen haben viel darüber spekuliert und es gibt so etwas wie einen philosophischen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele.
Es geht aber vielmehr um eine Lebensfrage, um eine Glaubensfrage. Der letzte Satz im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt: Ich glaube an das ewige Leben. Ich glaube an das Ewige Leben. Ich erinnere mich, wie tief es mich erschüttert hat, also ich zum ersten Mal, ich glaube, ich war sechzehn Jahre alt, in einem langen Abendgespräch einem Erwachsenen begegnet bin, der ein dezidierter, entschiedener Atheist war. „Mit dem Tod ist es aus.“ Es war mir rätselhaft, dass man überhaupt so leben kann, dass man so denken kann. Später bin ich Menschen begegnet, die auch so denken und die wunderbare Menschen sind. Ich denke an ein Ehepaar, beide höchst engagiert für andere Menschen und beide ganz klar die Überzeugung: Mit dem Tod ist alles aus. Das macht einen sehr vorsichtig zu sagen, dass Atheisten einfach Egoisten sind. Es stellt uns vor die große Frage: Woraus bezieht jemand, der nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt, die Motivation, doch ein so hingebungsvolles und gutes Leben zu leben? Es gibt noch ein anderes Phänomen, das mich noch tiefer erschüttert als der Atheist. Ich glaube, das steht heute noch mehr im Vordergrund: Dass das ewige Leben überhaupt nicht interessiert, dass das Diesseits die ganze Aufmerksamkeit ausfüllt. Es ist kein Platz für eine Frage nach dem Leben nach dem Tod. Das Danach ist aus dem Blick geraten.
Ich glaube, das wird nirgendwo so deutlich, wie im Umgang mit dem Sterben. Früher war die erste Sorge im Blick auf das Sterben: Wie komme ich gut hinüber? Wie kann ich anderen helfen, gut hinüber zu kommen? Die Bruderschaft „vom guten Tod“, die es auch hier im Stephansdom gab, hatte eben diese Sorge: Wie kann man sich gut auf die Todesstunde vorbereiten? Bin ich bereit, vor Gottes Angesicht zu treten? Ist mein Leben so, dass es im Angesicht Gottes standhält? Dementsprechend galt die Sorge vor allem dem transitus, dem Hinübergang. Man hat die Sterbegebete gepflegt. (Ich hatte einen Studenten, er ist Priester geworden, aus dem Walis, aus einem Seitental, dem Lötschental. Dort konnten noch die alten Leute alle Sterbegebete auswendig. Es war ein ganzer langer Ritus der Begleitung des Sterbenden im Gebet. Das wurde von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Ich habe ihn dann gebeten, das aufzuschreiben und darüber eine Arbeit zu schreiben, woher diese Gebete kamen und was sie uns zu sagen haben.)
Ich lese Ihnen ein Gebet vor, das uns weitgehend aus dem Blick geraten ist und das früher viele Menschen auswendig konnten, die so genannte Commendatio animæ, die Empfehlung der Seele zum Heimgang. Das war jenes Gebet, das man in der christlichen Tradition nicht nur mit dem Priester, auch in der Familie gebetet hat, wenn einer zum Sterben kam. Es beginnt mit den Worten: „Proficiscere anima christiana“, „Brich auf, christliche Seele, mach dich auf den Weg!“ Ich lese ein paar Zeilen daraus vor: „Mache dich auf den Weg, Bruder in Christus (Schwester in Christus), im Namen Gottes, des allmächtigen Vaters, der dich erschaffen hat; im Namen Jesu Christi, des Sohnes des lebendigen Gottes, der für dich gelitten hat; im Namen des Heiligen Geistes, der über dich ausgegossen worden ist. Heute noch sei dir im Frieden deine Stätte bereitet, deine Wohnung bei Gott im heiligen Zion, mit der seligen Jungfrau und Gottesmutter Maria, mit dem heiligen Josef und mit allen Engeln und Heiligen Gottes ... Kehre heim zu deinem Schöpfer, der dich aus dem Staub der Erde gebildet hat. Wenn du aus diesem Leben scheidest, eile Maria dir entgegen mit allen Engeln und Heiligen.“ Dann heißt es so schön: „Mögest du heute schon auf den amoena virentia, den lieblich grünenden Auen des Paradieses sein. Deinen Erlöser sollst du sehen von Angesicht zu Angesicht“ (KKK 1020).
Wie hat sich die Sorge um den Sterbenden verlagert! Ich sage das jetzt nicht verurteilend, sondern einfach feststellend. Als schöner Tod gilt heute ein plötzlicher Tod, plötzlich und schmerzlos. Jahrhunderte lang haben die Christen gebetet: „Bewahre uns vor einem unvorhergesehenen Tod!“ Der plötzliche Tod galt als Übel, weil man womöglich unvorbereitet sein könnte. Unvorbereitet plötzlich aus dem Leben gerissen zu werden in die Endgültigkeit des ewigen Lebens, das galt als Unglück. Was ich jetzt sage bitte nicht misszuverstehen: Das Bemühen um die Sterbebegleitung ist etwas Großartiges und es ist die klare Alternative gegen aktive Sterbehilfe, wie sie heute in Holland schon praktiziert wird. Aber doch eine weiterführende Frage: Ist unser Empfinden heute nicht vor allem auf das Wohlbefinden, möglichste Wohlbefinden im Sterben ausgerichtet? So wichtig und richtig das ist - bitte mich nicht misszuverstehen - aber ist nicht die Gefahr, dass der wohl vorbereitete Hinübergang aus dem Blick kommt und dass eigentlich das Entscheidende an der Todesstunde eben das ist, dass wir „drüben“ ankommen? Wenn wir darüber nachdenken, dann wird uns, glaube ich, bewusster, wie sehr das Evangelium Widerspruch zum Zeitgeist ist, oder sagen wir besser Weckruf, wie sehr Jesus uns aus dem Schlaf der Gleichgültigkeit oder auch der Selbsttäuschung herausreißen will.
Ich erinnere an die kleine Geschichte in Lukas 12,16-21. Einer hat eine große Ernte gemacht. „Was soll ich machen?“ Er überlegt es sich, reißt seine Scheune nieder und baut eine viel größere. Dann sagt er sich: So, jetzt hast du Vorräte für Jahre. Lass es dir gut gehen. Dann sagt Gott zu ihm: „Du Narr! Heute Nacht wird noch dein Leben von dir gefordert werden“ (Lk 12,20). Was wirst du dann von all dem mitnehmen? Später sagt Jesus: Schaut deshalb auf das, was euch vor Gott reich macht (vgl. Lk 12,33)! Das ist die Umwertung aller Werte, die Christus in unser Leben, in unsere Welt gebracht hat. Aus dieser Umwertung des Evangeliums ist eine ganze Kultur entstanden, eine Lebens- und eine Sterbekultur. Es gäbe den ganzen Stephansdom nicht ohne diese vom Evangelium geformte Lebens- und Sterbekultur. Alles, was die Archäologen bei den Ausgrabungen hier im Dom gefunden haben, weist auf diese Kultur des Wissens um die Bedeutung des Übergangs ins ewige Leben hin. Die Sorge um ein gutes Hinübergehen, um Brücken hinüber von diesem in das andere Leben, der Dom ist voller Zeugnisse von diesem Übergang, diesem guten Weggeleit in das andere Leben.
VI.
Dennoch, kritische Gegenfrage: Vielleicht war das den Christen früher so wichtig, weil der Klerus ihnen die Hölle heiß gemacht hat, weil die Angst vor der Hölle entsprechend angeheizt wurde? Hat es vielleicht etwas Positives, dass diese Angst heute einfach nicht mehr vorherrscht? Ich empfinde es so - ich weiß nicht, wie sie es sehen - dass einfach die Höllenangst nicht mehr unser Lebensgefühl bestimmt. Hat man nicht mit der Höllenangst auch wirklich böse Geschäfte gemacht? Haben wir nicht vielleicht in unserer Zeit doch deutlicher gesehen, dass Jesu Botschaft zwar auch die Warnung vor dem Verlust des Heils kennt, ganz klar, aber dass das nicht das Zentrum seiner Botschaft ist? Die ewige Verdammnis gibt es in Jesu Rede, aber sie steht nicht in der Mitte. Ich war sehr überrascht, als ich die jetzt erschienene Konkordanz der Schriften der kleinen hl. Theresia zur Hand nahm, also das Lexikon mit allen Wörtern, die bei ihr vorkommen, und mit allen Stellen, wo diese Worte vorkommen. Ich habe nachgeschaut unter dem Stichwort „enfance“, Kindschaft, das geht über mehrere Seiten, und stieß dann auf das Wort „enfer“, Hölle. Ich war überrascht, dass das ganz selten bei Thérèse vorkommt. Hat die Hölle nicht nur bei den Theologen an Bedeutung verloren, sondern vielleicht sogar bei den Heiligen? Ist hier vielleicht wirklich eine Wende gekommen, die auch von oben, vom Himmel her sozusagen gezeichnet und unterschrieben ist? Aber auch hier gilt es, nicht auf das zu schauen, was heute im Trend, im Zeitgeist plausibel und einleuchtend ist, sondern auf das, was Gott uns sagen will, vielleicht auch durch eine Akzentverschiebung.
Die Lehre von der Allversöhnung ist heute weit verbreitet, die Überzeugung, dass im Grunde alle Menschen gerettet werden. Selbst wenn man das Wort von der Hölle, wie es eindeutig in der Heiligen Schrift und in der Tradition vorkommt, nicht ganz beiseite schiebt, so haben doch viele, und ich gestehe, dass ich es vom Gefühl her auch so empfinde, den Eindruck, das kann doch nicht Gottes letztes Wort sein, dass es eine ewige Verdammnis gibt. Und doch müssen wir sagen: Die Offenbarung spricht uns das zu, sie sagt uns, dass es diese Möglichkeit gibt.
Ich komme hier zum entscheidenden und letzten Punkt, sozusagen zur Wasserscheide zwischen Glauben und menschlichen Vermuten unseres Zeitgeistes. Was sagt uns nun wirklich genau die Botschaft des Glaubens? Jesus sagt es zu Nikodemus: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit sie durch ihn gerettet wird“ (Joh 3,17). Das ist der Kern der Frohbotschaft. Aber wenn wir genau hinhören: „Damit sie gerettet wird“, das heißt doch, sie bedarf der Rettung. Vielleicht ist das der Kern der frohen Botschaft: Es gibt einen Retter!, aber auch: Wir brauchen einen Retter!, ohne den Retter sind wir rettungslos verloren, jeder von uns und die ganze Welt. Das sagt uns die Offenbarung. Die Verlorenheit, die ewige Unglückseligkeit ist genau das, was mich erwartet, wenn ich nicht gerettet werde. Der Himmel ist nicht das Natürliche, das Selbstverständliche. Ich muss gerettet werden, um in den Himmel zu kommen. Christus ist der Retter und Erlöser. Ohne ihn versinke ich hoffnungslos in meiner Verlorenheit. Paulus sagt das ganz klar als Echo auf das Wort des Herrn: „Gott, unser Retter, will, das alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). Aber wenn er will, dass wir alle gerettet werden, dann heißt das doch, dass wir alle Ungerettete sind. Wir sind nicht Gerettete von uns aus. Gott will uns retten, und dazu will er uns zur Erkenntnis der Wahrheit führen.
VII.
Rückfrage: Ist
das nicht übertrieben, dass wir alle rettungslos Verlorene sind? Gegenfrage:
Haben wir so wenig Selbsterfahrung, so wenig Einblick in den Abgrund der eigenen
Existenz, des eigenen Herzens, dass wir uns einfach in Sicherheit wiegen können?
Haben wir noch nie gespürt, was es heißt: Ohne dich bin ich rettungslos mir
selbst ausgeliefert, dem Abgrund meiner eigenen Gefährdung? Das ist die
Frohbotschaft: Gott will, dass alle Menschen gerettet werden. Jetzt verstehen
wir vielleicht doch etwas besser dieses so erschreckende Wort, das am Anfang
stand, das letzte Wort aus dem Markusevangelium: „Wer glaubt und sich taufen
lässt, wird gerettet werden. Wer nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk 16,16).
Wer nicht glaubt, dass Jesus sein Retter ist, wer nicht die Hand Jesu ergreift,
der versinkt im Abgrund der eigenen Verlorenheit. Den wird nicht Gott verdammen,
sondern er wird selber versinken. Nur Er ist der Retter. „In keinem anderen
Namen ist Heil“ (Apg 4,12).
Zwei Schlussbemerkungen: Gibt es also die Hölle? Der Glaube sagt uns, dass es
das Nein zu dieser rettenden Hand Gottes gibt. Deshalb bitten wir, dass alle zum
Glauben kommen und sich von Jesus retten lassen, oder anders gesagt, dass alle
sich bekehren, entweder ausdrücklich, indem sie Jesus begegnen, oder indem sie
in ihrem Leben das Gute wählen und ihrem Gewissen folgen und so gerettet werden.
Zweitens und letztens: Wenn das aber so ist, dann ist der Glaube an Jesus
Christus jetzt schon ewiges Leben. Wenn ich jetzt schon seine Hand ergreife,
dann bin ich im ewigen Leben, auch wenn ich noch sterben muss. Deshalb sagt
Paulus: „Denn für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn“ (Phil 1,21).
(c) Kardinal Dr. Christoph Schönborn. Dieser Text ist nur für den persönlichen Gebrauch gedacht. |